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Facts, 27. August 1998
Halb leere Müllschlucker

Es gibt mehr als genug KEHRICHTVERBRENNUNGSANLAGEN. Das wissen alle ausser das zuständige Bundesamt: Drei weitere KVA sind geplant.

Die Schweizer produzieren immer weniger Abfall - doch die Kosten für seine Vernichtung steigen ständig. Je weniger Hausmüll nämlich in einer der dreissig Schweizer Kehrichtverbrennungsanlagen landet, desto schwächer ausgelastet ist die Anlage - und desto teurer die Entsorgung. Die Schweizer Kehrichtverbrennungsanlagen, feilschen deshalb um jedes der rund 350 Kilogramm Abfall, die in der Schweiz pro Kopf jährlich anfallen.

Sie werden bald noch härter feilschen müssen. Statt die teuren Müllöfen effizient auszulassen, wollen die Bundesbehörden trotz Überkapazität zwei bis drei weitere KVA bauen.

Das Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft, Buwal, will Spielraum - 5 bis 10 Prozent Reserve an Verbrennungskapazität. Die kostet rund eine halbe Milliarde Franken. "Wenn die Konjunkturlage sich verbessert", sagt Hans-Peter Fahrni, Leiter der Sektion Abfall im Buwal, "werfen die Leute wieder mehr weg."

Der prognostizierte Abfallberg ist gross - und Fahrni sein Prophet: Eine bis zwei überzählige KVA, das sei klug, sagen die auf Sicherheit und Sauberkeit bedachten eidgenössischen Abfallspezialisten des Bundes. In Thun, Freiburg und im Tessin sollen möglichst schnell drei grosse, mit Bundesgeldern hoch subventionierte KVA gebaut werden mitunter gegen den Widerstand der Bevölkerung.

Doch Fahrnis Abfallberechnungen sind fehlerhaft. Seine Abfallspezialisten werben zum Beispiel mit der stolzen Prognose von 500000 bis 600000 Tonnen brennbaren Bauabfällen für weitere KVA. Damit, argumentiert Hans-Peter Fahrni heute noch, lasse sich der künftige Mehrbedarf an zwei bis drei zusätzlichen KVA rechtfertigen.

Eine bisher unveröffentlichte Studie, vom Buwal selber bei der Zürcher Firma Wüest & Partner in Auftrag gegeben, zeigt nun, wie ungenau und übertrieben die Abfallprognosen aus dem Buwal waren. Bereits 1998 fallen demnach zum Beispiel nicht 500000 Tonnen brennbarer Bauabfall für die KVA an, wie Fahrni seit Jahren behauptet, sondern lediglich 430000 Tonnen.

Ein beträchtlicher Unterschied: Die 70000 Tonnen Abfall entsprechen der Jahreskapazität einer kleineren KVA. Weil die Zahlen von seinen eigenen Schätzungen abweichen, sagt Fahrni über die Studie ausweichend: "Wir müssen diese Unschärfe akzeptieren und kämpfen für bessere Zahlen."

Das Buwal spielt die Ergebnisse der Studie herunter und will weiterbauen. Obwohl die Schweizer Müllsäcke seit zehn Jahren immer leichter werden, weil die Schweizerinnen und Schweizer den Abfall trennen und Glas, Altmetall oder Papier separat entsorgen lassen. Aber auch, weil viele immer noch illegale Entsorgungswege suchen. Das werde sich auch in Zukunft kaum vermeiden lassen, sagt Martin Lemann, Lehrbeauftragter für Abfalltechnik an der ETH Zürich und Vizedirektor des Abfuhrwesens Zürich, AWZ.

Die Verantwortlichen in den schlecht ausgelasteten Kehrrichtverbrennungsanlagen sind inzwischen selber aktiv geworden. Sie helfen sich gegenseitig aus mit Müll - oder holen ihn sogar im benachharten Frankreich oder Deutschland. Zürich etwa importiert zusätzlichen Müll aus dem deutschen Waldshut, um seine 6 riesigen Kehrichtöfen besser auslasten zu können.

Deshalb, sagt Jean-Georges Le Coultre, Direktor der KVA in Colombier NE, müsse auch der Nachbarkanton Freiburg sicher keine eigene KVA bauen, wie das Buwal gerne möchte. "Bei uns und in Monthey VS gibt es künftig genug Platz für den Freiburger Müll."

Das sei, kontert KVA-Beffimorter Fahrni, "eine leere Behauptung". Doch die Freiburger haben die Abnahmeofferten aus dem Wallis und aus Neuenburg Anfang Sommer erhalten. Das Angebot ist mit 151 Franken pro Tonne 4 Franken günstiger als die Entsorgung in einer eigenen Freiburger KVA. "Die vorhandenen Kapazitäten", sagt der Zürcher ETH-Abfalltechniker Martin Lemann, "reichen für die Zukunft aus."

Hans-Peter Fahrnis Abfallpolitik gerät ins Wanken, doch er beharrt auf seinen Bauprojekten. Auf unkontrollierten Deponien und auf Halden, wo Schweizerinnen und Schweizer jahrzehntelang Unrat entsorgten, kämen jährlich 260000 Tonnen Müll zu liegen, den es künftig zu verbrennen gelte, schreibt Fahrni in seinen Statistiken: Holz, Kunststoffe und Gumnüpneus etwa. "Um das alles loszuwerden", sagt Fahrni, "brauchen wir weitere Verbrennungsanlagen."

Hans-Peter Fahrni argumentiert überdies mit dem Bauabfall. Doch auf den Baustellen, sagt die neue Studie, fallen lediglich 125 700 Tonnen Material an, die sinnvoll als brennbarer Abfall in einer KVA vernichtet werden sollten. Es gibt zwar auch 308000 Tonnen Altholz von Baustellen, Täfer etwa, alte Böden oder Wandverkleidungen, doch das Altholz kann ebenso in Zementwerken oder Spezialöfen entsorgt werden.

Am liebsten möchte das Buwal dieses Altholz ganz den Kehrichtverbrennungsanlagen zuführen. 300000 Tonnen Abfall würden nämlich drei mittelgrosse KVA ein Jahr lang auslasten.

Doch das Holz ist noch nicht im Trockenen. Martin Lemann, Lehrbeauftragter für Abfalltechnik an der ETH Zürich, kritisiert die Buwal Zahlen in einem Brief ans Buwal ebenfalls. Möglicherweise, schreibt Lemann, habe Hans-Peter Fahrni zwei wesentliche Punkte in der aktuellen Abfallstatistik "etwas vage dargestellt" die Angaben über Klärschlamm- und Altholzverbrennung in den Zementfabriken.

Hans-Peter Fahrni schätzt die Konkurrenz der Zementfabriken nicht. je mehr Abfall nämlich die Zementfabriken verbrennen können, desto weniger KVA braucht es künftig. Diese Tatsache nutzt der Verband Schweizerische Zementindustrie: Durch die Abfallverbrennung in Zementwerken seien "beträchtliche volkswirtschaftliche Einsparungen" möglich, meldete er kürzlich, "teure zusätzliche Kapazitäten müssen nicht gebaut werden".

Die Zementindustrie will künftig doppelt so viel Abfall verbrennen, nämlich 3 00 000 statt wie bisher 145 000 Tonnen. Statt kostbare Rohstoffe wie Kohle oder Öl zu verteuern, wollen sie sich mit bis zu "75 Prozent Brennstoff aus Abfällen" versorgen, melden die Zementfabriken. Die Umweltschützer stehen auf ihrer Seite. Denn im Zementwerk fällt keine giftige Schlacke an wie in der KVA, und es gibt kein schmutziges Abwasser: Die Stoffe sind im Zement eingebrannt. Die Zementindustrie will "künftig in die Abfallplanung integriert werden".

Die Interessengemeinschaft Altholz, IG Altholz, möchte das auch. Der Energieträger Holz, schreibt Ingenieur Ruedi Bühler im Namen der IG Altholz, sei nicht da, um die Betriebskosten schlecht genutzter KVA zu senken. "Altholz gehört nicht in die KVA", sagt die IG, "sondern in spezielle Altholzfeuerungen." Bereits sind dafür rund 20 Schweizer Spezialöfen ausgerüstet.

Nachdem Preisüberwacher Werner Marti die Buwal-Abfallpolitik anprangerte, schwenkt nun selbst Werner Ryser, Sekretär des Verbandes der Betriebsleiter Schweizerischer Abfallbehandlungsanlagen, VBSA, auf diesen Kurs ein. Letzte Woche forderte auch er ein KVA-Moratorium: "vvir brauchen Zeit, um die Tendenzen besser abschätzen zu können."

Ryser möchte weitere Pannen vermeiden. In Thun etwa erinnert heute eine riesige Baugrube, die voreilig für eine geplante Verbrennungsanlage ausgehoben worden war, an die abenteuerliche Abfallpolitik. Das Projekt stellte sich als überdimensioniert heraus. Auch anderswo ist man kritisch geworden. Statt den vom Buwal gewünschten KVA-Bau rasch voranzutreiben, spielt zum Beispiel der Kanton Tessin auf Zeit. Er kündigte letzte Woche an, die drei grossen Tessiner Abfalldeponien blieben bis nach dem Jahr 2000 geöffnet. Damit hat das Tessin eine Alternative zum Neubau.

"Die Zeiten, in denen unser Tun fast kritiklos akzeptiert wurde", erkennt die Berner AG für Abfallverwertung, AVAG, in ihrem Geschäftsbericht 1997, "sind vorbei."
VON BETTINA MUTTER


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09.09.1998