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Neue Zürcher Zeitung INLAND Dienstag, 14.07.1998 Nr. 160 11
Grenzen des gewerbsmässigen Abfalltourismus

Das Bundesgericht gibt dem Thurgau recht
Der auf dem kantonalen Abfallgesetz basierende Beschluss des Thurgauer Regierungsrates, wonach das Sammeln und Entsorgen von Siedlungsabfällen im Einzugsgebiet der Kehrichtverbrennungsanlage (KVA) Weinfelden ausschliesslich Sache der Anlagebetreiberin - eines von 88 Gemeinden gebildeten Zweckverbands - sei, ist rechtmässig. Dies hat das Bundesgericht entschieden. Private Transportunternehmen müssen ihre preisgünstigere Konkurrenz nun sofort einstellen oder andernfalls mit Strafverfahren rechnen.

stb. Weinfelden, 13. Juli
Die Umsetzung des Prinzips, nicht vermeidbare Abfälle (in dieser Reihenfolge) zu vermindern, zu verwerten und/oder schliesslich umweltgerecht zu entsorgen, ist eine kostspielige Angelegenheit. Das wissen seit einigen Jahren auch die Thurgauerinnen und Thurgauer. Die ab Mitte 1996 stufenweise in Betrieb genommene zentrale KVA Weinfelden (Ersatz für zwei veraltete, als eigentliche "Dreckschleudern" geltende Anlagen in Hefenhofen und Müllheim) war mit gut 250 Millionen Franken das teuerste Hochbauwerk, das im Kanton je errichtet wurde. Und weil neben den Kosten für die Verbrennung auch jene für das Sammeln und den Transport des Kehrichts, dazu für die zahlreichen Sonderabfuhren und das Recycling etwa von Papier, Glas, Büchsen oder Leuchtstoffröhren in den Entsorgungsgebühren enthalten sind, erhöhte sich damals der Preis zum Beispiel eines 35-Liter-Abfallsacks auf stolze Fr. 3.30. Obwohl dieser Betrag in der Zwischenzeit leicht auf Fr. 2.70 reduziert wurde, liegt er noch immer deutlich über dem schweizerischen Mittel.

Von Bedeutung für den Thurgau ...
Die Konsequenzen blieben nicht aus. Einerseits verhielten sich die Abfallproduzenten tatsächlich so umweltbewusst, dass - mitbedingt durch den allgemeinen Wirtschaftsgang - die auf eine Jahreskapazität von total 120 000 Tonnen ausgelegten Weinfelder Öfen nur rund die Hälfte dieser Menge zu verarbeiten hatten. Anderseits traten aber auch private Sammel- und Transportunternehmen auf den Plan, die das Preisgefälle zu ausserkantonalen, ebenfalls nicht voll ausgelasteten Anlagen nutzten, um Thurgauer Kehricht zur kostengünstigeren Entsorgung beispielsweise in die Zürcher Nachbarschaft (Winterthur, Dietikon, Zürich Hagenholz) oder in den Aargau (Turgi) zu bringen.

Die Möglichkeit eines solchen gewerbsmässigen «Abfalltourismus» hatte man im Thurgau allerdings schon vorweg bedacht. Das kantonale Abfallgesetz räumt deshalb dem Regierungsrat ausdrücklich die Kompetenz ein, sogenannte KVA-Einzugsgebiete festzulegen und für sie sowohl eine Annahmepflicht (für Anlagenbetreiber) als auch eine Abgabepflicht (der "Abfallinhaber") zu verordnen. Im Fall der KVA-Region Weinfelden tat die Regierung dies im März 1996. Gestützt darauf wiederum verbot das kantonale Bau- und Umweltdepartement später einem Entsorgungs-Konkurrenzunternehmen die Tätigkeit. Die dagegen geführten Beschwerden der Firma - sie war schon bald nicht mehr die einzige, die mit Kehricht ein offenbar gutes Geschäft machte - wurden vor Jahresfrist vom Thurgauer Verwaltungsgericht und jetzt, Ende Juni, auch vom Bundesgericht abgewiesen. (Auf eine zusätzlich erhobene staatsrechtliche Beschwerde traten die Lausanner Richter nicht ein.)

An einer kurzfristig einberufenen Medienorientierung verhehlten am Montag Departements- und KVA -Verantwortliche ihre Genugtuung über das Urteil nicht. Es bestätige, dass auch öffentliche Investoren einen «Anspruch auf Schutz» hätten, wenn sie der gesetzlichen Verpflichtung zur umweltgerechten Abfallentsorgung nachkämen und dafür erhebliche Mittel (Subventionen, Darlehen, Bürgschaften) aufbrächten, sagte Alfred Wechsler, der Verwaltungsratspräsident der KVA. Und Departementssekretär Marco Sacchetti liess keinen Zweifel daran, dass man den Vorschriften nun definitiv zum Durchbruch verhelfen wolle:
Sämtliche bekannten Transportunternehmungen, die sich an den Aktionen beteiligten, hätten am letzten Freitag Unterlassungsverfügungen mit sofortiger Wirkung zugestellt erhalten. Parallel dazu würden die Kontrollen verstärkt.

... und darüber hinaus
Von Bedeutung ist der Bundesgerichtsentscheid indes auch für die immer mehr auf grössere Räume hin anzulegende Abfallplanung. Das höchstrichterliche Urteil bringt in diesen Prozess (vgl. Kasten) zumindest ein Element der Grundlagen-Verlässlichkeit. Der Thurgauer KVA-Präsident Wechsler spielte darauf an, als er vor den Medien in Weinfelden erklärte, dass der Zweckverband nun endlich genauer sehe, über welche Restkapazitäten er verfüge und über welche Mengen er entsprechende Verträge abschliessen könne. Der Blick geht dabei zum einen in Richtung St. Gallen - engere Kooperation mit den schon bisher auch Thurgauer Abfälle verbrennenden KVA St. Gallen und Bazenheid-, zum andern aber auch in Richtung deutsches Bodenseegebiet: Dort wurde eine Entsorgungsauftrag unlängst ausgeschrieben, und Weinfelden, wohin dank der Mittelthurgaubahn ein Grossteil der Abfälle auf dem Schienenweg gebracht werden könnte, befindet sich unter den Offertstellern

Zusatzinformation: Textkasten
Regional denken, Kapazitäten reduzieren
stb. Das Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft hat vor einigen Wochen eine umfangreiche Studie veröffentlicht, die von Vertretern der Ostschweizer Kantone erarbeitet wurde und mögliche Lösungen für die koordinierte Abfallentsorgung im Zeitraum ab 2010 aufzeigt. Zu Untersuchungszwecken teilte man die Region dabei in vier Zonen (Z) ein. Z 1 umfasst das Einzugsgebiet der bestehenden KVA im Kanton Zürich (Josefstrasse, Hagenholz, Winterthur, Horgen, Hinwil, Dietikon), Z 2 jenes der Anlagen St. Gallen, Bazenheid und Weinfelden, Z 3 das der KVA Niederurnen und Buchs, Z 4 den Kanton Graubünden (Trimmis). Im Rahmen der Studie wurden elf plausible Szenarien entwickelt.


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16.07.1998