SBA-THUN
HOME WHAT'S NEW ARCHIVES GUESTBOOK

NZZ, Dienstag, 22. Dezember 1998
Wie sozial verträglich ist unsere Abfallwirtschaft?

Zusatzinformation: Textkasten: Das Beispiel der SBA Thun

Wie sozial verträglich ist unsere Abfallwirtschaft?
Umfrageergebnisse weisen auf Akzeptanzprobleme hin
Von Herbert Winistörfer und Vicente Carabias*

Ein Forschungsprojekt innerhalb des Schwerpunktprogramms Umwelt, lanciert vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, hat die Frage nach der Sozialverträglichkeit der schweizerischen Abfallwirtschaft gestellt und sie im Rahmen einer Expertenbefragung an hundert Fachleute aus den verschiedenen Bereichen der schweizerischen Abfallwirtschaft gerichtet.

Wiederholt hat der Preisüberwacher öffentlich plädiert für einen Planungsstopp bei neuen Kehrichtverbrennungsanlagen und für eine bessere Auslastung bestehender Anlagen zugunsten der Konsumenten als Gebührenzahler. Im Kanton Schaffhausen wird wie zuvor schon im Kanton Zürich das Referendum gegen eine Erhöhung der Kehrichtsackgebühr ergriffen. In Thun beschreiten lokale Bürgerorganisationen den Weg durch die gerichtlichen Instanzen, um den Neubau einer Anlage zu verhindern. Diese Beispiele zeigen, dass die Entsorgung unseres Siedlungsabfalls noch keineswegs gelöst ist, obwohl zurzeit andere (Umwelt-)Probleme drängender erscheinen. In einer dreistufigen Befragung haben Experten Visionen und Szenarien der zukünftigen schweizerischen Abfallwirtschaft entwickelt. Vertreten waren alle bedeutenden Akteure, nämlich Technologieanbieter und Anlagebetreiber, Gesetzgeber und ausführende Behörden, Wirtschaft und Umweltorganisationen, Planer und Wissenschafter. Hauptstossrichtung der Befragung war die Erforschung der gesellschaftlichen Aspekte der Abfallwirtschaft, unter anderem Akzeptanzfragen, Konsumverhalten, Mitwirkung der Öffentlichkeit und Sozialverträglichkeit.

Sozialverträglichkeit
Der Begriff der Sozialverträglichkeit wurde in den siebziger Jahren geprägt, als Sozialwissenschafter versuchten, anhand von sogenannten Sozialindikatoren die Lebensqualität erfassbar und messbar zu machen. Das Ziel war, den bei der Umweltverträglichkeitsprüfung dominierenden, objektiv-naturwissenschaftlichen Messgrössen die subjektiven Wahrnehmungen, Bewertungen und Einstellungen gegenüberzustellen. Später hat der Begriff durch den Brundtland-Report von 1987 und die Uno-Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 neue Aktualität erhalten, wo die soziale Nachhaltigkeit neben der ökologischen und der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit als Teil der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft definiert wurde. Noch immer bestehen allerdings sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, was Sozialverträglichkeit genau bedeutet und wie man sie messen könne. Mitbestimmung und Mitwirkung der Bevölkerung sowie die Berücksichtigung der Interessen zukünftiger Generationen werden im allgemeinen als wichtige Aspekte der Sozialverträglichkeit betrachtet. Für das vorliegende Forschungsprojekt wurde als Kriterium für Sozialverträglichkeit die öffentliche Akzeptanz gewählt, d. h., Sozialverträglichkeit sei (in einem demokratischen Rechtsstaat wie der Schweiz) dann gegeben, wenn aus der betroffenen Bevölkerung kein erheblicher Widerstand auf politischer, rechtlicher oder sonst öffentlicher Ebene erwächst.
Als die bedeutendsten Akzeptanzprobleme im Zusammenhang mit der Abfallwirtschaft - und damit als die kritischen Aspekte sozialer Verträglichkeit - stufen die befragten Experten einhellig einerseits die steigenden Entsorgungsgebühren und anderseits die Standortwahl für Entsorgungsanlagen ein.

Protest gegen Entsorgungsgebühren
Die steigenden Abfallgebühren als bedeutendstes Akzeptanzproblem haben in erster Linie damit zu tun, dass die hohen Fixkosten der Abfallbehandlung, d. h. vor allem der Kehrichtverbrennung, auf immer weniger anfallenden Siedlungsabfall verteilt werden müssen. Die Kehrichtmengenentwicklung ist weit unter den Prognosen geblieben, die zur Erstellung der heutigen Kapazitäten veranlasst hatten: Die Mengen sind 1997 weiter gesunken, die Auslastung der bestehenden Anlagen ist ungenügend, und die Bereitschaft der Bevölkerung, die finanziellen Folgen dieser Fehlplanung mit zu bezahlen, sei es mit fixen Entsorgungsgebühren oder - immer häufiger - mit einer verursachergerechten Sackgebühr, nimmt stetig ab.
Nach der künftigen Entwicklung der Kehrichtmenge befragt, rechnen die Experten sowohl mittel- wie langfristig mit einer Stagnation oder einem geringen Rückgang. Dabei überwiege die Abnahme auf Grund weiter steigender Gebühren und der weiter zunehmenden Separatsammlung gegenüber einer möglichen Zunahme wegen des ab dem Jahr 2000 geltenden Deponieverbots für brennbare Abfälle. Folgerichtig sind auch zwei Drittel der Experten der Meinung, auf den Bau zusätzlicher Anlagen zur Kehrichtverbrennung solle zurzeit zugunsten einer besseren Auslastung der bestehenden Anlagen verzichtet werden.
Entscheidend sei, betonen die Fachleute, dass künftig die Koordination zwischen den verschiedenen Akteuren innerhalb der Abfallwirtschaft verbessert wird. Es müssten sowohl über Kantons- wie auch vermehrt über Staatsgrenzen hinweg ökonomisch und ökologisch sinnvolle Lösungen gesucht werden. Über Verbundlösungen zwischen privaten und öffentlichen Unternehmungen müsse die Effizienz der Entsorgung sowohl bezüglich Auslastung der Anlagen wie auch bezüglich der Transporte gesteigert werden. Kantone seien als Koordinationseinheiten zu klein bzw. die Abfallmengen zu gering für wirtschaftlich und ökologisch optimale Lösungen. Parallel dazu, wird kommentiert, müssten die öffentlichen Subventionen an Anlagen abgebaut, Kostenwahrheit realisiert und die Betriebsrechnungen der Anlagen offengelegt werden. So sollen in einem teilweise liberalisierten Entsorgungsmarkt Wiederverwendungs- und Wiederverwertungslösungen gegenüber der Verbrennung konkurrenzfähiger werden.

Fehlende Akzeptanz für neue Entsorgungsanlagen
Den zweiten Problembereich, bei dem die Abfallwirtschaft an die Grenzen der öffentlichen Akzeptanz stösst, bilden die neu zu erstellenden Entsorgungsanlagen. In zahlreichen Fällen, wie kürzlich bei einem Projekt in Thun, erwächst dem Vorhaben erbitterter Widerstand aus der lokalen Bevölkerung. Sind die Fronten zwischen Anlagebetreibern, kantonalen Behörden, Buwal und lokalen Oppositionsgruppen erst derart verhärtet, dass die Gerichte angerufen werden, drohen langwierige und kostenintensive Rechtsverfahren, und eine sachliche Diskussion zwischen den verschiedenen Anspruchsgruppen wird nahezu unmöglich.
Der Widerstand der lokalen Bevölkerung gegen Anlagen für die Kehrichtverbrennung gründet laut Experten in erster Linie in der Befürchtung, dass Geruchsbelästigung, Luftschadstoffbelastung sowie aufkommender Zusatzverkehr die Lebensqualität beeinträchtigen. Wenn solche Befürchtungen durch Behörden, Planer und Betreiber nicht genügend ernst genommen werden, wenn spärlich informiert und besorgte Bürger mit vollendeten Planungen konfrontiert werden, wird die Vertrauensbasis zwischen Akteuren und Betroffenen gestört. Solchen Situationen könnte, meint eine Mehrheit der Experten, durch den aktiven Einbezug der betroffenen Bevölkerung bereits in der Planungsphase vorgebeugt werden.

Mediation durch neutrale Dritte
Das Beispiel SBA Thun (siehe Kasten) zeigt, dass das vorgegebene Verfahren selbst immer wieder zu Akzeptanzproblemen führen muss. Das liegt an der konfrontativen Grundstruktur - hier Planungen, dort Einwendungen und am Ende eine «Ja-nein-Entscheidung», die keinen Verhandlungsspielraum bietet. Offenbar sind die rechtlich vorgeschriebenen Beteiligungsformen, in diesem Fall die Meinungsäusserung im Rahmen eines Mitwirkungsverfahrens und die Möglichkeit der Einsprache gegen das Baugesuch, nicht ausreichend, um zu allgemein akzeptierten Entscheidungen zu kommen. Grund dafür dürfte sein, dass die betroffene Bevölkerung erst zu einem Zeitpunkt Einfluss nehmen kann, da die wichtigen Entscheide bereits gefällt sind. Hier sind einerseits neue Methoden gefordert, die bereits bestehende Konflikte konsensorientiert angehen, etwa die Mediation durch neutrale Dritte. Anderseits sind bereits Planungsinstrumente bekannt und erprobt, welche den Einbezug aller Anspruchsgruppen in den frühen Planungsphasen einer Anlage gewährleisten und so möglichen Konflikten vorbeugen. Planungszelle/Bürgergutachten, runder Tisch, Szenarioworkshops oder Konsensuskonferenzen (Publiforen) sind Beispiele für das, was sich unter dem Überbegriff Akzeptanzdialog zusammenfassen lässt. Wichtig dabei ist, dass es bei diesen Verfahren nicht darum geht, für bereits getroffene Entscheide Akzeptanz zu schaffen, sondern dass unter Einbezug aller Interessen nach Lösungen gesucht wird, die grösstmögliche Akzeptanz erreichen.

Akzeptanzdialoge als Vorbeugung
Die meisten der befragten Abfallwirtschaftsexperten halten Akzeptanzdialoge für geeignet, dem Widerstand gegen Anlagen vorzubeugen, und fordern den vermehrten Einsatz dieser Instrumente. Dass dies bisher noch nicht geschehen sei, führen sie hauptsächlich auf den ungenügenden Informationsstand der Akteure zurück und auf die fehlende Bereitschaft der Behörden, daran teilzunehmen.
Zusehends wächst die Einsicht, dass ohne Berücksichtigung der sozialen und gesellschaftlichen Aspekte jedes Abfallwirtschaftskonzept zum Scheitern verurteilt ist. Neben den (umwelt)technischen und den ökonomischen Aspekten sind die sozialen Belange für die öffentliche Abfallentsorgung und für die damit verbundene Entscheidfindung von grosser Wichtigkeit. Nur eine Abfallwirtschaft, die dem in der Planung und Realisation ihrer Projekte Rechnung trägt, wird sich als zukunftsfähig erweisen.

* Fachstelle Ökologie der Zürcher Hochschule Winterthur (ZHW) unter der Leitung von Prof. Dr. Walter Joos.


Das Beispiel der SBA Thun
Das Verfahren, wie heute Entsorgungsanlagen geplant und realisiert werden, ist nur sehr beschränkt geeignet, Akzeptanzprobleme zu verhindern. Verdeutlichen lässt sich dies beispielhaft anhand des Projekts Schwelbrennanlage (SBA) Thun:

1993Standortevaluation und -entscheid durch die Betreibergesellschaft
1994Entscheidung für eine Technologievariante durch die Betreiber
1995Erarbeiten der kantonalen Überbauungsordnung (Planungsinstrument, das die Mitbestimmungsmöglichkeit der Standortgemeinde einschränkt)
2. 1996Mitwirkungsverfahren zur kantonalen Überbauungsordnung; die Bevölkerung kann per Antworttalon ihre Meinung äussern
11./12. 1996Öffentliche Auflage von Überbauungsordnung und Baugesuch provoziert zahlreiche Einsprachen und Rechtsverwahrungen
2. 1997Petition gegen die Anlage an den Regierungsrat
5. 1997Erteilung der Baubewilligung durch den Regierungsrat
5. 1997Sammelbeschwerde von Einsprechern an das Verwaltungsgericht


TALK TO US
08.01.1998