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TAGES ANZEIGER (02.06.2000)
Spitze des Abfallberges brechen

Die Umweltbehörden planen den Bau einer neuen KVA in Thun. Modelle der Empa St. Gallen zeigen aber: Nimmt man Kunststoffe aus dem Abfall, erübrigt sich die Anlage.

Die Schweizer Kehrichtverbrennungsanlagen sind überfordert: 3,3 Millionen Tonnen Siedlungsabfall müssen verbrannt werden - zu viel für die Öfen der KVAs, die bei knapp 2,5 Millionen Tonnen an ihre Grenzen stossen. "Sie sind randvoll!", sagt Hans-Peter Fahrni, Leiter der Abteilung Abfall beim Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal). Mit der steigenden Konjunktur ist im letzten Jahr auch der Abfallberg gewachsen - um 170 000 Tonnen oder 5,7 Prozent. Hinzu kommt, dass seit dem 1. Januar dieses Jahres brennbare Abfälle nicht mehr deponiert werden dürfen, sondern in den Kehrichtöfen verbrannt werden müssen. So rechnen die Statistiker für die nächsten fünf Jahre mit einem weiteren Anstieg der Abfallmenge. Das Buwal und die Vorsteher der kantonalen Umweltschutzfachstellen waren sich letzte Woche an einem Treffen in Bern auch einig: Die geplanten Verbrennungsanlagen im Tessin und in Thun müssen rasch verwirklicht werden. "Auch bei Vollbetrieb der geplanten KVAs fehlt uns in fünf Jahren weiterhin die Kapazität für 200 000 bis 300 000 Tonnen Abfall", rechnet Hans-Peter Fahrni vor.

Überrascht vom Votum am runden Tisch ist Paul W. Gilgen, Leiter der Abteilung Ökologie an der Empa St. Gallen: "Die geplante KVA in Thun braucht es möglicherweise gar nicht." Zu diesem Schluss kommt der Chemiker auf Grund der Computermodelle, die er und sein Team im Auftrag der Schweizerischen Stiftung für Kunststoffreintegration (SSK) während mehr als zwei Jahren gemeinsam mit der Rytec AG in Münsingen entwickelt haben. "Wir schätzen die Menge Kunststoffabfälle in der Schweiz aus Industrie und Gewerbe auf mehr als 100 000 Tonnen pro Jahr", sagt Gilgen. Das entspricht der Menge, für die die geplante Kehrichtverbrennungsanlage in Thun Platz machen würde. Grundlage für diese Hochrechnung bilden zwei Modellregionen. Die Empa-Forscher haben den Computer mit Informationen aus den Einzugsgebieten der KVAs St. Gallen und Baselland gefüttert: Menge verwertbarer Kunststoffabfälle, Auslastung der KVAs, Transportdistanzen, Entsorgungskosten. Aus dem riesigen Datenwulst bewertete das Programm, welche Entsorgungspfade ökonomisch und ökologisch sinnvoll sind: Verbrennen in der KVA, im Zementwerk oder eine stoffliche Verwertung.

Millionen sparen
"Die geplante KVA Thun kostet etwa eine Viertelmilliarde. Bei solchen Investitionen muss zuerst gerechnet, dann gehandelt werden", sagt Gilgen. Er ist überzeugt, dass Millionen gespart und erst noch der Ausstoss des Treibhausgases CO2 reduziert werden könnte, wenn der Kunststoffstrom koordiniert in die drei Entsorgungspfade kanalisiert würde. Doch die Fachleute rechnen unterschiedlich, so scheint es. Zwar räumt Buwal-Abfallspezialist Hans-Peter Fahrni ein, dass die prekäre Situation künftig vermutlich eine intensivere Kunststofftrennung verlange. Doch die Schätzungen der Empa wertet der Abfallexperte auf Grund von Erfahrungen früherer Studien als zu optimistisch. "Etwa 50 000 Tonnen Kunststoff können aus dem Siedlungsabfall getrennt werden."

"Volkswirtschaftlich denken"
In einem Punkt sind sich die Fachleute allerdings einig: Simulationen sind erst dann sinnvoll, wenn deren Ergebnisse auch umgesetzt werden können. "Die KVA-Betreiber dürfen nicht nur betriebswirtschaftlich, sondern sollen künftig vermehrt auch volkswirtschaftlich denken", sagt der Empa-Ökologe Paul W. Gilgen. Konkret heisst das: Die überregionale Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Verbrennungsbetrieben muss verbessert werden. Dass dies möglich ist, zeigen die Kooperationen zwischen den KVAs in Weinfelden und Winterthur sowie Bazenheid und St. Gallen. Abfallexperte Hans-Peter Fahrni denkt sogar an Zusammenschlüsse mehrerer KVAs unter dem Dach einer Holding.

Das Abfallmanagement optimieren ist eine Sache. Die andere ist, Gewerbe und Industrie zu überzeugen, dass es sich lohnt, Kunststoffe zu trennen. "Hier muss noch viel Informationsarbeit geleistet werden", sagt Gilgen.

Verheizen und verwerten
So bleibt letztlich die Frage, wer sich für die gesammelten Kunststoffe interessiert. Die Schweizer Zementindustrie hat in den letzten sechs Jahren 36 Prozent nicht erneuerbare Brennstoffe wie Schweröl und Kohle durch alternative Energieträger ersetzt: Altpneus, Gummiabfälle, Lösungsmittel, Klärschlamm und Kunststoffe. Dieser Anteil stieg von etwas mehr als einem Prozent 1994 auf heute 13,5 Prozent. "In nächster Zukunft werden wir noch weitere Zementwerke in der Schweiz für die Kunststoffverbrennung ausrüsten", sagt Bernhard de Quervain, Leiter Umwelt und Energie bei der Holderbank. Für jeden einzelnen Brennstoff muss im Zementwerk eine eigene Logistik (Vorratsräume, Transportwege) organisiert werden, so auch für die Kunststoffverbrennung. Die strengen Emissionsvorschriften verlangen nämlich ausgewählte, sortenreine Kunststoffe. "PVC mit fünfzig Prozent Chlor und verunreinigte Materialien eignen sich nicht", sagt Georges Spicher, Direktor des Verbandes der Schweizerischen Zementindustrie Cemsuisse. In Frage kommen beispielsweise Lego-Bausteine, Stanzabfälle oder Verpackungsmaterialien. Die Kosten für zusätzliche Infrastruktur würden mit der Entsorgungsgebühr der Lieferanten gedeckt, sagt de Quervain. Trotzdem ist die Investition nicht ohne Risiko. Denn das Kunststoffangebot müsse, so Verbandsdirektor Spicher, langfristig garantiert sein.

Aus Flaschen werden Röhren
Ähnlich hohe Anforderungen stellen Verwertungsfirmen. Das grösste Unternehmen der Schweiz, die Poly Recycling AG im thurgauischen Weinfelden, kauft nur vorsortierte Kunststoffabfälle etwa aus Polyethylen und Polystyrol: Abdeckfolien, Baufolien, Shampoo-, Wasch- und Spülmittelflaschen. Zerkleinert, gewaschen und granuliert entstehen aus den Abfällen wieder Folien und Röhren. Allerdings sei der Verbrauch an Energie und Kühlwasser immer noch zu gross, sagt Martin Model, Geschäftsführer der Poly Recycling AG. "Die Anlagen stecken immer noch in den Kinderschuhen." Der Grund: Die Maschinenbauer investierten bislang nur wenig in neue Entwicklungen, da das Interesse an Kunststoffrecycling nur gering war. Das könnte sich nun ändern. Der Ölpreis ist hoch, die Produktion neuer Kunststoffe dementsprechend teurer. "Recyclingkunststoffe könnten in Zukunft billiger produziert werden", sagt Chemiker Paul W.Gilgen von der Empa St. Gallen.


KOMMENTAR
Verwerten statt verbrennen

Die geplante Kehrichtverbrennungsanlage in Thun müsse rasch gebaut werden. Darüber sind sich Bundes- und Kantonsbehörden einig. Wirtschaftlicher Aufschwung und das seit Jahresbeginn geltende Deponieverbot für brennbaren Müll hätten den Abfallberg höher anwachsen lassen als erwartet. Die Verbrennungsöfen seien für die nächsten Jahre überfordert. Schlagende Argumente für eine neue KVA? So einfach sollte man sich die Entscheidung nicht machen. Rund eine Viertelmilliarde Baukosten würde die Anlage in Thun verschlingen, um Platz für 100 000 Tonnen Abfall zu schaffen. Doch das gleiche Ziel erreichte man auch, wenn die Kunststoffabfälle aus Industrie und Gewerbe statt verbrannt wieder verwertet würden. Das rechnen Forscher der Empa St. Gallen vor. Dieser Weg sei ökonomischer und ökologischer. Ein Problem, zwei Lösungen. Welche wählen? Die Empa-Vorschläge passen besser in die Hierarchie des Abfallleitbildes der Schweiz: Vermeiden, vermindern, verwerten, verbrennen. Die Zeit für Kunststoffrecycling ist zudem günstig: Die Ölpreise sind hoch, die Produktion neuer Kunststoffe wird teurer. Recyclinganlagen dürften schon bald mit energiesparenden Maschinen ausgestattet sein.

Doch wie sollen die Kunststoffe getrennt werden, fragen die Skeptiker. In der Tat müssen Industrie und Gewerbe erst noch überzeugt werden, dass sich gezielte Kunststoffsammlung lohnt. Auch fehlen Erfahrungen mit effizienten Sammelsystemen. Nur gezielte Informationsarbeit der Umweltfachstellen führt hier zum Erfolg.

Dass Aufklärungsarbeit fruchten kann, zeigt das Beispiel im Kanton Zug. Dort brachte die Bevölkerung im letzten Jahr über 1400 Tonnen Kunststoffabfälle aus dem Haushalt zu den Sammelstellen. Aus dem fünfjährigen Versuch wird nun eine feste Einrichtung, diesmal allerdings mit gezielter Trennung. Die gesammelten Polyethylen-Flaschen werden später Folien und Röhren hergestellt.

Vor diesem Hintergrund muss die Lösung heissen: nochmals rechnen, dann handeln.

Martin Läubli


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07.06.2000